Am 05. September 2023 trafen wir uns im Rahmen unserer abschließenden Großexkursion mit Ronny und Frank von der GeoWerkstatt Leipzig e.V. zu einer Fahrradtour, um die verschiedenen Aspekte der Region kennenzulernen. Wir haben uns insbesondere mit der Entwicklung des Bergbaus und der Infrastruktur auseinandergesetzt und verschiedene Bezüge zur aktuellen politischen und wirtschaftlichen Diskussion hergestellt. Der Fokus lag auf den historischen und strukturellen Veränderungen im
Leipziger Südraum.
Text und Fotos von den Studierenden der Universität Innsbruck
Ländliche Regionen im deutschsprachigen Raum stehen gegenwärtig vor großen demografischen Herausforderungen, zu denen Bevölkerungsrückgang und Überalterung, infrastrukturelle Defizite in der Verkehrsanbindung und in der digitalen Vernetzung, sowie eine oft geringe wirtschaftliche Diversifizierung gehören. In vielen Gebieten herrscht eine schlechte Grundversorgung und ein Mangel an kulturellen sowie Freizeitangeboten. Gleichzeitig sind die politische und wirtschaftliche Interessenvertretung sowie die Anpassung an nachhaltige und moderne Wirtschaftspraktiken unzureichend. Der Leipziger Südraum ist ein Paradebeispiel für die aktuellen Herausforderungen des ländlichen Raums und den Umgang damit. (Quelle Ländlicher Raum)
Unsere Tour startete am Bahnhof Neukieritzsch im Süden von Leipzig, einem historisch und modernen Verkehrsknotenpunkt entlang einer beeindruckenden fünfgleisigen Eisenbahnstrecke. Der Bahnhof ist ein wichtiger und gut ausgestatteter Verkehrsknoten-punkt, der die lange Geschichte und industrielle Entwicklung von Neukieritzsch widerspiegelt. Die Geschichte des Ortes Neukieritzsch reicht über 500 Jahre zurück und ist eng mit dem Bau der Sächsisch-Bayerischen Eisenbahn verbunden, die später im Jahr 1842 zur Gründung einer neuen Siedlung führte und damit den Ort maßgeblich prägte. Durch die Folgen des Versailler Vertrages nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen Rückgang der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet wurde der Braun-kohletagebau in der Region stark vorangetrieben und Neukieritzsch zu einem wichtigen Rangierbahnhof. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Wirtschaft immer stärker um die Braunkohleförderung ausgebaut, unter anderem mit der Aufgabe bzw. dem Wegbaggern einiger Dörfer, aber auch dem Kraftwerk Lippendorf. Dieses Kraftwerk konnten wir dann später auch aus der Ferne sehen. (Quelle Ortsentwicklung)
Aufgrund des Rückgangs der wirtschaftlichen Bedeutung der Braunkohle schrumpfte auch die Bevölkerung von Neukieritzsch kontinuierlich. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Schließung des historischen Bahnhofsgebäudes, das wir heute bloß noch von außen verschlossen betrachten konnten. Zeitgleich konnten wir auch eine Zunahme an Angeboten für Pendler:innen beobachten, wie beispielsweise Leihfahrräder und eine Vielzahl an überdachten Fahrradparkplätzen.
Während der folgenden Fahrt zum Tagebau „Vereinigtes Schleenhain“ wurden weitere interessante Aspekte des Dorfes und der Umgebung erkennbar, wie zum Beispiel der Ausbau eines Fahrradwegenetzes sowie verschiedene Tourismusangebote, darunter die Achterbahn des Freizeitparks Belantis, der auf dem Gelände eines ehemaligen Tagebaus liegt. Der Tagebau Vereinigtes Schleenhain wurde im Jahr 1949 eröffnet und zählt heute zu den beiden noch betriebenen Tagebauen im Mitteldeutschen Braunkohlerevier. Im Laufe der Zeit wurden aufgrund des Tagebaus insgesamt fast 1500 Menschen umgesiedelt und sechs Dörfer devastiert. Es war bemerkenswert zu beobachten, wie durch verschiedenste Maßnahmen zur Begrünung und Bewässerung versucht wird, die Staubbelastung in der Umgebung zu reduzieren. Aufgrund der flachen Abbautechnik und zahlreicher Förderanlagen erscheint der Tagebau auch deutlich kleiner als die großen Tagebaue im Ruhrgebiet. Wir konnten auch die Infrastruktur des Ortes Pödelwitz auf der gegenüberliegenden Seite erkennen. Ein Dorf, das aufgrund des früheren Kohleausstiegs und der verkürzten Laufzeit des Kraftwerks Lippendorf eigentlich abgebaggert werden sollte, bleibt nun doch erhalten. Heute dient es als Visions- und Modellprojekt für den Strukturwandel der Region im Hinblick auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Dieses Projekt wird vom Verein „Pödelwitz hat Zukunft e.V.“ geleitet (Quelle Pödelwitz). Ziel ist es, den fast vollständig verlassenen Ort wieder neu zu besiedeln und eine neue solidarische und gemeinschaftliche Lebensweise zu erproben. Besonders interessant ist, dass im Dorf Pödelwitz gemeinschaftliche, erneuerbare Formen der Energiegewinnung und -nutzung ausprobiert werden und zeitgleich in der Region zunehmend mehr Projekte der erneuerbaren Energiegewinnung ausgebaut werden. Ein Beispiel ist der Energiepark Witznietz, der größte Freiflächensolarpark Deutschlands. (Quelle Solarpark)
Bei der weiteren Fahrt durch die rekultivierten Flächen der Tagebauregion war es bemerkenswert zu sehen, wie der Mensch das Landschaftsbild nach seinen Vorstellungen und Plänen formen kann. Ehemalige Auwaldflächen, die vor 200 Jahren Teil des Gebiets waren und später in große Tagebaue umgewandelt wurden, haben sich nun zu dichten Wäldern und Seen entwickelt und bilden ein neues Naherholungsgebiet vor den Toren Leipzigs. Dank der guten Anbindung an Leipzig durch die Zugstrecken und die Autobahn sowie der Rekultivierung des Gebiets steigt die Einwohner:innenzahl der umliegenden Orte wieder an. (Quelle Rekultivierung)
In Zwenkau konnten wir das extremste Beispiel beobachten. Der Ort wurde durch den
Braunkohleabbau stark industriell geprägt, was zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt hat. Es entstand eine große „Bergarbeitersiedlung“, welche für die DDR sehr typisch war. Die Siedlung bestand aus kleinen Häusern mit quadratischem Straßen-grundriss, kleinen Gärten und einer klassischen Bergbaugemeinschaft. Aufgrund des Strukturwandels im späten 20. Jahrhundert und dem Rückgang der Kohleförderung wurde Zwenkau jedoch gezwungen, sich neu zu erfinden. Eine wichtige Neuausrichtung bestand in der Sanierung und Umwandlung der Tagebaulandschaften. Diese Bemühungen führten zur Entstehung des Zwenkauer Sees, eines der größten Gewässer im Leipziger
Neuseenland. Der See ist heute ein bedeutendes Freizeit- und Erholungsgebiet, das den Tourismus in der Region ankurbelt. Zudem hat diese Entwicklung zu einer Umstruk-turierung der Wohn- und Lebensinfrastruktur im Ort geführt. Ein Freizeithafen wurde am See errichtet und die neuentwickelten Gebiete entlang der ehemaligen Tagebaugrenze wurden als modernes Luxuswohngebiet vermarktet. Dies führte zu einem großen Zustrom wohlhabender Leipziger und bewirkte die Entstehung einer Art „Parallelgesellschaft in einem Ort“. Auf der einen Seite gibt es die traditionelle Arbeiterschaft, die dort schon lange lebt, auf der anderen Seite die zugezogenen „Neureichen“. Auch der Tourismus im Ort gewinnt immer mehr an Bedeutung und veranschaulicht somit beispielhaft den Wandel Zwenkaus von einem von Industrie geprägten Ort zu einem vielseitigen Ort, der eine gelungene Mischung aus historischem Erbe und neuer Dynamik bietet. Orte, die aufgrund der Nähe zum Tagebau früher als unattraktiv für Wohn- und Lebenszwecke galten, erfahren durch die Rekultivierung nun eine vollständige Aufwertung. Es ist schwer eindeutig zu beurteilen, ob diese Entwicklung das Beste für die Zukunft des Ortes und die Ortgemeinschaft darstellt. (Quelle Stadt Zwenkau)
Die Exkursion in den Leipziger Südraum hat uns gezeigt, wie eine Region durch den Wechsel von industriellen Strukturen zu nachhaltigen Entwicklungsmodellen neu geformt werden kann. Die Geschichte von Neukieritzsch und Zwenkau, die früher vom Braun-kohleabbau geprägt waren, zeigt eine tiefgreifende Transformation, die sowohl Herausforderungen als auch Möglichkeiten mit sich bringt. Die Schließung des alten Bahnhofs und der Bevölkerungsrückgang in Neukieritzsch symbolisieren den Niedergang traditioneller Industrien. Gleichzeitig zeigen die neu gestalteten Landschaften und der Zwenkauer See, dass die Region in der Lage ist, sich neu zu erfinden und attraktive Lebensräume zu schaffen. Die Tatsache, dass Pödelwitz als Projekt für Umwelt- und Sozialverträglichkeit dient, zeigt, dass der Wandel in diesem Gebiet nicht nur ökonomischer Natur ist, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Die Exkursion hat uns gezeigt, wie komplex der Strukturwandel ist. Er beinhaltet nicht nur
wirtschaftliche, sondern auch soziale und ökologische Veränderungen. Unsere Fahrrad-tour hat uns wertvolle Erkenntnisse gebracht und hat dazu beigetragen, dass wir die kritische Landforschung besser verstehen. Sie zeigen, dass die Veränderung ländlicher Gebiete im deutschsprachigen Raum sowohl durch die Vergangenheit als auch die Gegenwart und durch Menschen, die in eine nachhaltige Zukunft investieren wollen, geprägt ist.
Insgesamt zeigt der südliche Teil Leipzigs, wie durch kritisches Nachdenken und innovative Ideen eine Region sich selbst erneuern kann. Dadurch gibt es wichtige Lehren für ähnliche Prozesse in anderen ländlichen Gebieten und betont die Bedeutung von interdisziplinärer Forschung und Lehre, wie sie im Rahmen unserer gesamten Exkursion „Kritische Landforschung“ praktiziert wurde.